Serhiy Zhadan
Serhiy Zhadan, 1974 im Gebiet Luhansk/Ostukraine geboren, studierte Germanistik, promovierte über den ukrainischen Futurismus und gehört seit 1991 zu den prägenden Figuren der jungen Szene in Charkiw. Er debütierte als 17-Jähriger und publizierte zwölf Gedichtbände und sieben Prosawerke. Für Die Erfindung des Jazz im Donbass wurde er mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis und mit dem Brücke-Berlin-Preis 2014 ausgezeichnet (zusammen mit Juri Durkot und Sabine Stöhr). Die BBC kürte das Werk zum »Buch des Jahrzehnts«. Zhadan lebt in Charkiw.
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Romane und Gedichte
von Serhiy Zhadan (erschienen beim Suhrkamp Verlag):
Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts, 2006
Anarchy in the UKR, 2007
Depeche Mode, 2007
Big Mäc, 2011
Hymne der demokratischen Jugend, 2011
Die Erfindung des Jazz im Donbass, 2012
Warum ich nicht im Netz bin, Gedichte und Prosa aus dem Krieg, 2016
Mesopotamien, 2017,
Internat, 2018 (Preis der Leipziger Buchmesse 2018),
Antenne (Gedichte) 2020,
Preise und Auszeichnungen
– Preis der Leipziger Buchmesse 2018
– Schweizer Literaturpreis der Jan-Michalski-Stiftung 2014
– Brücke Berlin-Preis 2014
– Samuel-Bogumil-Linde-Literaturpreis 2002
Serhiy Zhadan bei Suhrkamp
Auszug aus Warum ich nicht im Netz bin, Gedicht und Prosa aus dem Krieg
Auszug aus Warum ich nicht im Netz bin, Gedicht und Prosa aus dem Krieg
Kaplane und Atheisten
Was ändert der Krieg? Der Krieg ändert das Vokabular. Er reaktiviert Wörter, die man bis dato nur aus historischen Romanen kannte. Vielleicht weil krieg immer auch die Geschichte reaktiviert. Man kann sie sehen, schmecken, riechen. Meist riecht sie verbrannt.
Kaplane zum Beispiel kannte ich zuvor nur aus Büchern. Was ihre Bestimmung war, habe ich nicht genau verstanden. Bei Kaplanen habe ich immer an Schwejk gedacht – ein zerfallenes Imperium, ein trostloser Krieg, eine korrupte Kirche, ein Gott, der gestorben ist und die Auferstehung vergessen hat, Priester, die weniger den Glauben als vielmehr seine totale Abwesenheit symbolisieren. Aber seit im Donbass Krieg ist, bin ich mit vielen echten Kaplanen in Berührung gekommen. Sie sind scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht, früher, vor dem Krieg, hat es sie einfach nicht gegeben. Aber vor dem krieg hat es auch keinen Krieg gegeben.
Der Krieg bringt seine eigenen Wörter hervor. Sie klingen scharf und kalt, sie bezeichnen nie kriegsferne Dinge, obwohl sie ins zivile Leben eindringen und tiefe Spuren hinterlassen. Das Kriegsvokabular strömt in die Gespräche, wie Passagiere in die morgendlichen Terminals strömen. Du legst fremde Wörter an, rollst sie auf der Zunge hin und her, spürst den metallischen Nachgeschmack. Der Krieg ist wie Giftmüll im Fluss – er erreicht jeden, der in Flussnähe wohnt. Du musst auf die neuen Substantive und Verben reagieren, du gewöhnst dich an sie, sie werden dir vertraut. Plötzlich finden sich unter deinen Bekannten Einberufene, Verwundete und Gefangene. Du gewöhnst dich dran, dass die Sprache um Wörter dieses schwarzen Vokabulars erweitert wird, um Dutzende neuer Wörter, von denen jedes einzelne nichts anderes als Tod bedeutet. Da der Tod viele Namen hat, müssen sich die Lebenden die Wörter wohl oder übel einprägen. (…)