Kritik von Zehra Sönmez

Eine Kritik von Zehra Sönmez

HAPPY, WE LIVED ON A PLANET
von MERVAN ÜRKMEZ
mit Texten von Ekkehard Freye, Renate Henze, Nika Mišković, Raphael Westermeier, Anton und Oskar Westermeier und Mervan Ürkmez
Dramaturgie: Hannah Saar

Sketch: Zehra Sönmez

Wir laufen auf unterschiedlichen Wegen, auf denselben Steinen, die auf dasselbe zurückführen – auf die Unendlichkeit der Endlichkeit – und verirren uns im Kreis der Paradoxie.

Vor ca. 65 Millionen Jahren sind die Dinosaurier, die fast 200 Millionen Jahre die dominierende Spezies auf dem Planeten waren, in kürzester Zeit ausgestorben. Ein Komet ist eingeschlagen und hat eine Reihe von Ereignissen ausgelöst, die zu ihrer Auslöschung geführt haben. Und doch sind sie allgegenwärtig. Wir finden ihre Fußspuren im Boden, über den wir gehen; wir finden ihre Abbilder auf Schultüten von Kindern. Wir finden sie in den Vögeln, die über uns fliegen; und in den Schildkröten, die zu unseren Füßen krabbeln. Wir finden sie in uns. Denn nur durch ihr Aussterben konnte die Menschheit entstehen.

Über Endlichkeit zu sprechen – über die Endlichkeit von Beziehungen, die Endlichkeit des eigenen Lebens, die Endlichkeit des Lebens geliebter Menschen oder Tiere und über die Endlichkeit der Menschheit – löst in der westlichen Welt meist ein Unwohlsein aus. In Folge wird das Sprechen, die Auseinandersetzung mit Endlichkeit eingestellt. Doch woher kommt die Angst vor dem Ende?
In Happy, We Lived on a Planet beobachten wir fünf Menschen verschiedenen Alters bei der Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit. Sie leben ihr Leben und das Ende ist mit dabei. Doch muss das unbedingt etwas Trauriges sein?

Ensemblemitglied Mervan Ürkmez schafft in seiner ersten Regiearbeit mit dem künstlerischen Team von Happy, We Lived on a Planet einen Erfahrungsraum für eine sinnliche und vielschichtige Auseinandersetzung mit der Endlichkeit und sucht nach der Hoffnung und Schönheit der Vergänglichkeit. Was bleibt, wenn etwas geht? Was folgt auf ein Ende? Welche Spuren hinterlässt etwas?

Die Welt, unsere Bühne.

Auf der sich in einem harmonisierten Rhythmus drehenden Bühne befinden sich fünf Menschen: Ekkehard Freye, Renate Henze, Nika Mišković, Raphael und Anton/Oskar Westermeier. Sie leben teils voneinander unbewusst, aber dennoch auf derselben Bühne, auf derselben Welt. Die einen leben zu zweit, die anderen allein, doch jeder betrachtet das Sein, die Existenz aus einer anderen Perspektive. Unterschiedliche Blicke werden auf dieselbe Welt, dieselben Steine gesetzt.

Über ihnen schwebt ein Komet, der später als Schauplatz einer Videoinstallation fungieren soll. Metaphorisch hingegen malt er die Endlichkeit aus, welche unentwegt über die Existenz unser und unseresgleichen schwirrt und einen unablegbaren Teil unseres Seins darstellt. Während sich der Raum in die Unendlichkeit öffnet, wird die Decke durch die Endlichkeit determiniert.

Die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit.

Beginnend mit einem kurzen wissenschaftlich angelehnten Vortrag von Anton/Oskar über das Verschwinden der Dinosaurier und die Eiszeit- sowie Glasregen-Theorie, wird ein Übergang zu der komplexen Thematik der Endlichkeit geschaffen.
Statt knallbunten, utopischen, unüblichen Installationen, begegnet das Publikum einem in seinen Grundzügen aus der Alltäglichkeit entnommenen Bühnenbild.
Die unterschiedlichen Situationen, welche sich auf den verschiedenen Teilen der Bühne – und dennoch unmittelbar auf demselben Fleck befinden – spiegeln dem Auge des Publikums bekannte oder sogar erlebte Gegebenheiten wider. Keine Gegebenheiten, die es noch nie gegeben hat.
Mit dieser Art und Weise von Begegnung, mit dem Aufweisen des Bekannten, Nichtfremden wird eine Atmosphäre geschaffen, die das Publikum in eine aus Harmonie und Wohlklang schwimmenden Position abtauchen lässt. Sie erzeugt keine Angst, kein Unwohlsein, keinen Drang zu Entfliehen. Ganz im Gegenteil – das Bekannte wird inszeniert – ein Zugang, der für alle offen steht. So taucht das Publikum in die Auseinandersetzung mit der üblicherweise abgelegten Endlichkeit ein und findet ihren Ausweg erst mit dem Beenden der Gedanken, die auf die Inszenierung folgen werden – nie und immer.

Effacé (devant) – ein Versuch der Verewigung

Das Weitergeben kann auf sehr vielschichtige Ebenen übertragen werden. Wenn wir an das menschliche Weitergeben denken, verharrt unser Gedanke allerdings nicht selten an Ritualen, Traditionen, Leidenschaften und Norm-/Wertvorstellungen. Meist begegnet man in diesem Zusammenhang dem Erbe primär durch Eltern und/oder Großeltern. Mit dem Tod dieser und jener anderer verblassen die Erinnerungen, entfernen die Gegebenheiten sich von der gegenwärtigen Realität bis irgendwann selbst die prägnantesten Angewohnheiten ihren Platz verlieren. Es sei denn, sie treten physisch innerhalb unserer Lebensrealität auf – zum Beispiel durch Fotos, Aufzeichnung, Abbildern auf Schultüten, Stickern und noch so vielen Formen der Verewigung.
In einer kleinen Ecke der Bühne können wir dieses Phänomen wiedererkennen. Auf der einen Seite versucht Renate unterschiedliche Bewegungen und Posen des Balletts Anton/Oskar beizubringen. Dieser übt jene mal mehr mal weniger begeistert – also einer realitätsgetreuen Stimmung entsprechend – aus.

Auf der anderen Seite zeichnen die beiden gemeinsam eine Audiospur auf, welche einen selbstverfassten Brief Antons/Oskars an die Außerirdischen erklingen lässt. Außerirdische, die es vielleicht irgendwann nach uns oder zu einem späteren Zeitpunkt unseres Lebens geben wird, vielleicht auch nicht. Auch in diesem Akt spiegelt sich der Versuch der Verewigung wider. Wir versuchen wie die Dinosaurier zu sein. Wir versuchen zu sein auch, wenn wir irgendwann nur noch gewesen sind.

Limited amore

Was passiert, wenn wir aufhören zu Lieben und Leben?

Auch diese Thematik kann zentral auf der Bühne wiedergefunden werden. Nika und Raphael – ein Paar, welches sich einen gemeinsamen Alltag teilt. Die Beiden reflektieren unterschiedliche Ansichtsweisen bezüglich der Endlichkeit, unterschiedliche Blicke auf das Sein und die Welt. Während Raphael der Endlichkeit zu entfliehen versucht und eine eher negativ konnotierte Auffassung hinsichtlich dieser einnimmt, umfasst Nika eine positive Position gegenüber dem Ganzen. Sie versucht Raphaels Angst zu nehmen und seinen Blick auf die Phänomene zu vertauschen. Innerhalb ihrer Gespräche schwirren Begrifflichkeiten, wie beispielsweise FOMO (Fear of missing out) oder aber auch die Qualle Turritopsis nutricula, welche unsterblich ist, durch den Raum. So wird die Thematik auf verschieden ausgelegte Ebenen übertragen und bietet somit vielschichtige Zugänge.
Bemerkenswert an dieser Stelle ist außerdem, dass – unabhängig von der zentralen Thematik – entgegen der tradierten vergeschlechtlichten Stereotypien gewirkt wird. Nicht das weibliche, sondern das männliche Geschlecht offenbart seine Angst. So wird erneut unterstrichen: Sexistische Zuschreibungen finden keinen Platz auf dieser Bühne.

Zugespitzt wird die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit, durch die Umwandlung von der Intersubjektivität hin zur Intrasubjektivität. Nika entscheidet sich für ein Leben in der Ferne ohne Raphael.
Diese intrasubjektive Auseinandersetzung findet sich auch in Ekkehards Alltag wieder, jedoch nur in impliziten Zügen seines Verhaltens, wie zum Beispiel der Kündigung seines Telefonvertrages. Der Drang zur Organisation und zeitgleich auch die unausgesprochene Vorbereitung auf das Nicht-Mehr-Existieren.

Steinkreise – die Paradoxie der Endlichkeit in der Unendlichkeit

Steinkreise, unter anderem auch Keltenrad genannt, finden ihre Definition auf unterschiedlichster historischer sowie moderner Ebene wieder. Während die Senegambischen Steinkreise seinen Platz im UNESCO-Welterbe einnehmen und vermutlich als Grabstätte dienten, zeigten andere die Mondphasen, Jahreszeiten sowie Himmelsrichtungen an und wurden als Kalender genutzt.

Darüber hinaus symbolisieren Steinkreise in einer bestimmten Anordnung die Unendlichkeit, wobei die Mitte das Zentrum der Lebenskraft und der Kreis die Brücke zur Anderswelt darstellt. Diese Zuordnung findet sich in seiner Paradoxie auch in der Inszenierung von Happy, We Lived on a Planet wieder: Die Gegenstände auf der sich drehenden Bühne werden durch Steine ersetzt und in einem Kreis angeordnet. Ekkehard steht im Zentrum des Steinkreises, im Zentrum der Unendlichkeit und verdampft tanzend in seiner Endlichkeit. Hiermit wird nicht nur die Paradoxie der menschlichen Endlichkeit in der weltlichen Unendlichkeit in Szene gesetzt, sondern auch eine weitere Thematik aufgegriffen – nämlich die der Steine. Die ältesten Steinkreise der Welt befinden sich im Südosten der Türkei. Die megalithischen Strukturen Göbekli Tepes, welche mehr als 11.000 Jahre alt sind, sind viel älter als wir. Steine werden zum Teil uralt, viel älter als Menschen, Tiere und Bäume.

Und so spannt sich der steinern-staubige Faden durch die Szenen.

Videoinstallation

Zu einem gewissen Zeitpunkt wandelt sich der Komet zu einem Schauplatz einer Videoinstallation des Regisseurs Mervan Ürkemz um. Die Videosequenz beginnt mit den Händen einer älteren Person, deren Handlinien nachgegangen werden. Spuren auf unserer Hand. Spuren, die auf unserem Körper ruhen. Spuren, die wir zu hinterlassen drängen. Anschließend kommen unterschiedliche Sequenzen, darunter auch Ausschnitte von Bahnhöfen, Zügen und Gleisen, zum Vorschein. Ständig wird die Endlichkeit animiert.

Verengte Bahnsteige deren Ende für unser Auge nicht sichtbar ist.
Die Gleise strecken sich, auf ihnen Mengen von unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Gedanken mit unterschiedlichen Blicken.
Blicke auf die Welt.
Blicke auf die Welt und das Leben, die jeder von uns anders stellt.
Die Paradoxie der Endlichkeit in der Unendlichkeit.
Gleise auf denen wir von Stadt zu Stadt schweben.
Sie hören auf für uns, werden endlich, sobald wir unser Ziel erreichen und abtreten.
mit dem Gedanken, dass jene Gleise weitere Wege, Strecken pflegen.
bis in die Unendlichkeit.
mit dem Gedanken, dass die Züge ihre Unendlichkeit mit unserer Endlichkeit nicht aufgeben.
Der steinerne Bahnhof.
Ein Ort an dem die Paradoxie der Existenz auf den richtigen Zug wartet.
Ein Zug, der das Endliche mit dem Unendlichen vereint und verewigt
– genauso wie der Steinkreis unter dem Kometen.

 –  Zehra Sönmez

*Die Namen, welche hinsichtlich der Inszenierung den SchauspielerInnen zugeteilt wurden, enstprechen den Eigennamen dieser und weisen keinen Bezug auf die Rollen innerhalb der Inszenierung auf. Sie dienen lediglich der Orientierung innerhalb dieses Skripts!

Fotos: © Hans Juergen Landes Fotografie

Happy, We Lived on a Planet