Der Phönix lacht


Der Phönix lacht


Der Phönix und Dortmund spielen eine ganz besondere Rolle in dem Stück „2170 – Was wird die Stadt gewesen sein, in der wir leben werden“  von Julia Wissert. Warum der Phönix ein idealer Reiseführer ist und was der magische Vogel über die Zeit und die Zukunft weiß, erklärt Sabine Reich.

Der Phönix gehört nach Dortmund. In Dortmund muss man niemandem erklären, was der Phönix ist. Man sagt: „Wie Phönix aus der Asche“ und das ist ein guter Slogan für die Stadt und die Region. Was gestern zerstört, kaputt und am Boden war, stahlt heute schon in neuem Glanz. Auferstanden. Nicht kaputt zu kriegen. Irgendwas geht immer. Immer weiter. Immer wieder.

Der Phönix ist der mythologische Vogel der ewigen Wiederkehr, man kannte ihn in Ägypten und im antiken Griechenland, heute kennt man ihn besser als treuen Gefährten von Albus Dumbledore. Doch ob bei Herodot oder Harry Potter: der Phönix verbrennt, wird zu Asche und erwacht zu neuem Leben.

Dortmund hat seinen eigenen Mythos und seinen eigenen Phönix: das Werk und den See. Als Hochofen und Stahlwerk schlossen, wurde das ewige Feuer zu Asche, ein Friedhof der Arbeit. Doch die tote Industrielandschaft feierte Auferstehung und wurde ein See, eine Promenade, wurde Wohnung und Wohlstand. Irgendwas geht immer. Geht und kommt wieder. Nichts bleibt sich gleich. Immer anders. Stadterneuerung.

Erneuerung wurde sehr lange als Fortschritt beschrieben und daher glauben wir oder glaubten für eine sehr lange Zeit: Es wird nicht anders, es wird besser. Wir schreiten voran. Das Alte zerfällt, muss abgerissen werden. Muss Platz machen für Neues. Und das Neue ist immer besser als das Alte. Auf  dieser Annahme beruht die Idee der Modernität, seitdem glauben wir an Innovation und Wachstum, an Trends und Moden. Wir kaufen und optimieren, verbessern und er-neuern uns.

Fortschritt – die Idee, dass Veränderung gleich Verbesserung ist – setzte sich im 17. Jahrhundert in Europa durch. Man schritt voran und dehnte sich aus: Zeit und Raum versprechen von nun an unendliche Weiten, die kontrolliert und in Besitz genommen werden können. Die ersten Uhren und der neu eingeführte gregorianische Kalender bestimmen den präzisen Takt des aufkommenden Kapitalismus und der europäischen Expansion in die Kolonien. Deren Eroberung ist die Anwendung des Fortschritts-Gedankens in den  geographischen Raum. Kein Stillstand, es geht unweigerlich Schritt für Schritt nach vorn. Das darin liegende Paradigma des Fortschritts ist eine gerade Linie, die nur eine Richtung kennt und unweigerlich zum Ziel führt. Auf diesem Zeitstrahl wird Zeit

Als das Werk zum See wurde verschwand das Alte und kam das Neue. Fortschritt. Immer weiter. Aber lassen wir wirklich hinter uns, was gewesen ist? Was liegt unter dem See? Was wissen die Straßen in Hörde? Was erzählt der Boden der Halden und woran erinnern sich die Bäume? Und woran erinnern wir uns und was wollen wir vergessen?

“Ich habe über die Zeit geredet. Es ist so schwer für mich daran zu glauben. Man-ches vergeht. Geht vorbei. Manches bleibt einfach. Ich habe immer gedacht, es läge an meinem Gedächtnis. Weißt du, dass man manches einfach vergißt. Und anderes nie. Aber das ist es nicht. die Orte, die Orte sind immer noch da. Wenn ein Haus abbrennt, ist es fort, aber der Ort – das Bild davon – bleibt, und nicht nur in meiner Erinnerung, sondern auch draußen in der Welt. Meine Erinnerung ist ein Bild, das da draußen herumschwebt, außerhalb von meinem Kopf. Ich meine, auch dann, wenn ich gar nicht dran denke oder sogar wenn ich sterbe ist das Bild von dem, was ich getan oder gewusst oder gesehen habe, immer noch da draußen. Genau an dem Ort, an dem es passiert ist.”

Toni Morrisson, Menschenkind

Woran erinnern sich die Bäume? Was wissen die Straßen in Hörde?

Als das Ruhrgebiet wie ein Phönix aus der Asche neu geboren wurde und Stahl und Kohle hinter sich ließ, als es aufbrach zu neuer Arbeit und neuen Hoffnungen, haben wir den Staub auf den Fensterbänken und in den Lungen wirklich vergessen? Die Hitze der Hochöfen, die Fabrik ? Die Sorgen und Ängste der Großeltern? Derer, die neu ankamen in Dortmund, die die Sprache nicht verstanden und arbeiteten, damit die Kinder es besser haben würden.

Die Generation Strukturwandel hat sich neu erfunden und erhält Chancen und Mög-lichkeiten, zum ersten Mal im Ruhrgebiet. Sie erlernen neue Berufe, ihr Weg wird ein anderer sein als der ihrer Eltern und Großeltern, doch stellt sich die Frage nach Klasse und Herkunft mit aktueller Dringlichkeit. Denn Herkunft lässt sich nicht abräumen wie ein Stahlwerk, wir tragen sie in unserem privaten und kollektiven Gedächtnis. Sie ist eingeschrieben in soziale und politische Strukturen wie in unsere privaten Geschichten und Wahrnehmungen.

Und auch ein Stahlwerk bleibt, nachdem es abgebaut wurde, lebendig in unserer Erinnerung. Es schreibt sich ein, hinterlässt Spuren. Selbst wenn es eines Tages vergessen wird, ist es immer noch da.

Und die Synagoge, die zerstört wurde am 3. Oktober 1938, die zerrissen und zerlegt wurde, ist immer noch da. Sie hinterlässt Spuren und spricht zu uns. Wie auch das Hochhaus in der Kielstraße, das „Horror-Hochhaus“. Auch dieses Haus hinterlässt Spuren und wenn es eines Tages abgerissen wird, ist es immer noch da.

Denn der auferstandene Phönix lebt und stirbt, ist in Bewegung, anders und immer gleich. Er ist das Gegenteil jener modernen Auffassung von Zeit und Raum. Seine Wiederkehr steht für eine andere Perspektive, die nicht Expansion braucht um in Bewegung zu bleiben. In der Wachstum nicht Verdrängung, sondern organische Entwicklung in lebendigen Netzwerken bedeutet. Die nicht das Gewesene und Vergangene hinter sich lässt und auslöscht, sondern die Verantwortung übernimmt für Vergangenes und Zukünftiges.

Der Phönix lacht über den Fortschritt. Er erinnert uns daran, dass Zeit nicht vergeht, keine Linie ist, sondern ein Kreis, in dem wir uns bewegen. Ein Kreis, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sich begegnen und miteinander sprechen. Sie fragen sich: Was wird die Stadt gewesen sein, in der wir leben werden?

rosa Zeitung Nr.1